von Prof. Dr. med. Hans Udo Zieren
Trotz steigender Zahlen sind Schilddrüsenkarzinome mit einer Inzidenz von etwa 5 Fällen bei Männern und 11 Fällen bei Frauen auf 100.000 Einwohner vergleichsweise selten. Die in den letzten Jahrzehnten beobachte Zunahme betrifft in erster Linie kleinere papilläre Karzinome und ist daher auch ein Ergebnis besserer diagnostischer Möglichkeiten.
Voraussetzung für die richtige Behandlung ist eine exakte pathologische Diagnose. Das ist an der Schilddrüse mitunter sehr kompliziert und beginnt schon beim Herausfiltern der seltenen Karzinome aus der Vielzahl der meist zufällig entdeckten harmlosen Schilddrüsenknoten, deren statistisches Malignitätsrisiko im Promillebereich liegt. Auch die Punktionszytologie erbringt nur vergleichsweise selten eine eindeutige Krebsdiagnose und unterliegt bei den häufigen follikulären Proliferationen einer hohen Interobservervariabilität (5). Eine definitive histologische Diagnose ist daher häufig nur durch die operative Entfernung suspekter Knoten mit nachfolgender pathologischer Befundung möglich. Das erklärt auch die große Zahl primär diagnostischer Schilddrüsenoperationen. Etwa 25% aller Schilddrüsenoperationen werden hauptsächlich zur definitiven histologischen Klärung suspekter Knoten durchgeführt, die Rate bestätigter Krebsdiagnosen liegt nur bei etwa 15% (1). Ob neuere molekularbiologische oder andere Untersuchungsmethoden zu einer Senkung der immer wieder kritisierten hohen Rate an negativen diagnostischen Operationen beitragen, erscheint möglich, bleibt aber abzuwarten. Die Schwierigkeiten der exakten pathologischen Diagnose setzen sich zum Teil auch am adäquat entfernten Schilddrüsenpräparat fort. Das betrifft bei den häufigen follikulären Neoplasien sowohl den intraoperativen Schnellschnitt als auch die definitive pathologische Aufarbeitung. Hinzu kommt, dass es bei der Internationalen Klassifikation der Tumoren der UICC in der letzten Auflage zu einigen Änderungen gekommen ist, die zum Teil kontrovers diskutiert werden (3,9,).
Neuerdings wird z.B. die follikuläre nicht kapselüberschreitende Variante des papillären Schilddrüsenkarzinoms nicht mehr als Malignom eingestuft. Auch die TNM-Kategorisierung und die damit verbundene Risikostratifizierung wurden in einigen Punkten modifiziert, so dass sich in vielen Fällen ein Down-Staging ergibt. Dies betrifft vor allem die differenzierten Karzinome und beinhaltet z.B. bei papillären Karzinomen die Erhöhung der Altersgrenze für die Stadieneinteilung um 10 Jahre, die Herunterstufung des minimal-extrathyreoidalen Wachstums aus der pT3-Kategorie in die pT1- (Tumor bis 2 cm) bzw. pT2 Kategorie (Tumor > 2 – 4 cm), oder die Herabstufung des Lympknotenbefalls pN1 aus dem Stadium III in das Stadium I (Patientenalter < 55 Jahre) bzw. Stadium II (Patientenalter > 55 Jahre).
Sie sind die häufigsten Schilddrüsenkarzinome, neigen relativ frühzeitig zur lymphogenen Metastasierung, haben aber auch wegen Ihrer Jodaffinität eine insgesamt exzellente Prognose. Dies gilt insbesondere für sogenannte okkulte Mikrokarzinome mit einem Tumordurchmesser von weniger als 10 mm (PTC < 10 mm). In den meisten Fällen kann ein PTC relativ zuverlässig in der Punktionszytologie oder im intraoperativen Schnellschnitt erkannt werden. Bei punktionszytologischem Nachweis eines PTC wird derzeit vor allem in einigen asiatischen Ländern diskutiert (10), ob angesichts der insgesamt exzellenten Prognose und der meist geringen Aggressivität in bestimmten Fällen auf eine primäre operative Therapie verzichtet und stattdessen zunächst eine Verlaufsbeobachtung (active surveillance) erfolgen sollte. Das mag in Einzelfällen, z.B. bei geriatrischen Patienten eine durchaus sinnvolle Option sein, nach den deutschen Leitlinien und auch denen der meisten anderen Länder besteht die Therapie der Wahl in der kompletten operativen Entfernung des Tumors einschließlich eventueller Absiedlungen (2,7).
Kleines papilläres Karzinom (weißlich) mit weiteren kleinen Absiedlungen in einem normal großen Schilddrüsenlappen
Hinsichtlich der operativen Strategien Jahren hat es in der Chirurgie in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel hin zu einem differenzierten und risikoadaptierten Vorgehen gegeben. Bei suspekten Knoten erfolgt zunächst eine Hemithyreoidektomie der tumortragenden Seite mit einer intraoperativen pathologischen Schnellschnittuntersuchung. Nach den aktuellen deutschen Leitlinien wird ein nicht-organüberschreitendes, nicht metastasiertes und lokal komplett entferntes PTC <10 mm dadurch ausreichend radikal behandelt. Allerdings wird zu Recht betont, dass die 10 mm keine feste Grenze darstellen und somit Behandlungskorridore unter Einbeziehung pathologischer und patientenbedingter Gesichtspunkte bestehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch PTC < 10 mm multifokal auftreten können und das Risiko einer Lymphknotenmetastasierung bei bestimmten pathologischen Varianten bereits ab einer Tumorgröße von 5 mm steigt (5). Im eigenen Krankengut haben wir festgestellt, dass bei PTC < 10 mm, die im Rahmen dieser Korridore radikal operiert wurden, bei etwa jeder 3. Operation weitere intrathyreoidale Karzinomherde oder Lymphknotenmetastasen entfernt wurden. Es ist derzeit unklar, welche Relevanz diese Beobachtung hat, da ja in den Fällen mit Verzicht auf eine komplette Thyreoidektomie auch keine Radiojodtherapie erfolgt. Bei PTC > 10 mm gilt die komplette Thyreoidektomie als Standardverfahren. Wenn die Thyreoidektomie nicht schon bei der Primäroperation erfolgte, sollte bei erst postoperativer Krebsdiagnose so rasch wie möglich eine Komplettierungsthyreoidektomie erfolgen. Wegen Verwachsungen ist das Komplikationsrisiko einer solchen Operation in der Phase zwischen dem 4. postoperativen Tag bis zum 3. Monat erhöht. Unter der Voraussetzung, dass der Tumor bei der Erstoperation lokal komplett entfernt wurde, kann für die Komplettierungs-Thyreoidektomie die aktive Vernarbungsphase abgewartet und zur Senkung des OP-Risikos erst nach 3 Monaten operiert werden. Zusätzlich zur Thyreoidektomie sollten alle erkennbaren Lymphknotenmetastasen entfernt werden. Heutzutage erfolgt die Lymphadenektomie beim Schilddrüsenkarzinom nicht als klassische oder funktionelle Neck-Dissection, sondern Kompartment-orientiert (2). Im deutschsprachigen Raum hat sich dafür eine Einteilung in 4 Kompartimente durchgesetzt (1 = zervikozentral, 2 = zervikolateral rechts, 3 = zervikolateral links, 4 = oberes infrabrachiocephales Mediastinum).
Die Behandlung der Schilddrüsenkarzinome erfordert viel Spezialwissen, erfolgt in der Regel interdisziplinär und wird in weiten Teilen durch umfangreiche Leitlinien verschiedener Fachdisziplinen vorgegeben. Da einige relevante Fragen noch nicht abschließend geklärt sind, verbleiben Ermessensspielräume und Entscheidungskorridore.